Surplus #3: Vom sorglosen zum sorgenden Staat

»Nicht staatliche Fürsorge, sondern mehr Eigenverantwortung ist gefragt, wenn wir den Herausforderungen der nahen Zukunft gerecht werden wollen«, erklärte Friedrich Merz während der Energiepreiskrise – um im selben Atemzug seine angebotsseitige Politik zugunsten der Unternehmen zu wiederholen.
Dabei hat sich der Staat aus der sozialstaatlichen Fürsorge immer weiter zurückgezogen. Der Fachkräftemangel in diesen Branchen spricht für sich: 1999 kamen auf jede Pflegekraft durchschnittlich 3,2 Pflegefälle, 2023 waren es 4,5 Fälle – ein Anstieg um über 40 Prozent, Tendenz steigend. Ähnlich ist es bei den Jüngsten. In Kindertagesstätten fehlen über 300.000 Fachkräfte, was zu chronischer Überlastung von Sorgearbeitenden führt, wie Viktoria Reich in der Reportage dieser Ausgabe zeigt.
Dieser sorglose Staat erklärt Fürsorge zur »Eigenverantwortung«. Das belastet vor allem Frauen, die nach wie vor einen Großteil der Sorgearbeit stemmen müssen. Die Politökonomin Melinda Cooper erklärt im Interview, wie ein »stummer wirtschaftlicher Zwang« die familiären Abhängigkeiten erhöht – nicht nur innerhalb der Kernfamilie, sondern auch im erweiterten Verwandtschaftsnetzwerk. Denn im Zuge des neoliberalen Umbaus des Staates hat die Fürsorge einen hohen Preis: mehrere hundert Euro im Monat sind es für Kitaplätze, für Pflegeplätze mehrere tausend Euro.
Diese neoliberale Familienpolitik beruht auf der neoliberalen Theorie der Familie: So betrachtet der Ökonom und Nobel-Gedächtnispreisträger Gary Becker die Familie als Wirtschaftseinheit zur Produktion langlebiger Konsumgüter (Kinder), wo sich der Staat – wie bei Firmen – mit Eingriffen zurückhalten solle, wie Max Hauser in dieser Ausgabe beschreibt. Dabei zeigt jede Kindertagesstätte, wie irrsinnig auch bei der Sorgearbeit das blinde Vertrauen auf Individuum und Markt ist: In jeder Kindertagesstätte kümmert sich eine Fachkraft um mehrere Kinder. Aus dieser gemeinsamen Fürsorge folgen enorme Skalen-, Arbeitsteilungs- und Multiplikatoreffekte. Sie sind die ökonomische Voraussetzung für eine gerechte Verteilung der Sorgearbeit in der Zukunft.
Doch die Politik zementierte in den letzten Jahren etwa mit dem Ehegattensplitting und dem Elterngeld die Geschlechterungleichheit, wie Jo Lücke analysiert. Unter Schwarz-Rot wird sich voraussichtlich nicht viel ändern, meint Britta Sembach. Das kürzlich von der Familienministerin Karin Prien vorgestellte Familienpflegegeld zeigt, dass Schwarz-Rot Familien und Frauen noch stärker in die »Eigenverantwortung« nehmen will. Was es stattdessen braucht, liegt auf der Hand: einen Staat, der alle entlastet – jene, die keinen bezahlbaren Kita- oder Pflegeplatz finden, jene, die in der Kita und der Pflege arbeiten, und jene, die sich selbst um die Jungen und Alten kümmern wollen. Kurzum: Wir brauchen einen sorgenden, statt einen sorglosen Staat.
Viel Spaß bei der Lektüre
Lukas Scholle